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Der erste Teil kam, soweit ich das mitbekommen habe, ziemlich gut bei euch an. Daher möchte ich eine kleine Erinnerung geben: Feedback ist immer gerne gesehen. Besonders in den Kommentaren, wo ihr auch, weil ihr z. B. Angst habt, dass jemand der euch kennt, das lesen könnte, anonym kommentieren könnt.
Es wäre echt awesome vielleicht mal ein oder zwei Kommentare von euch zu erhalten. Das Feedback im Fediverse war auch sehr gut. Vielen Dank dafür.
Kommen wir also zum zweiten Teil dieses Blog-Projekts.
Die allseits ‚beliebten‘ befehlenden Ratschläge
„Du musst einfach unter Leute“
Einer der Sätze, die ich wohl am meisten in meinem Leben gehört habe. Von Familie, Freunden, Kollegen und Menschen, die mich nicht mal kennen. Aber was passiert, wenn ich, oder auch viele andere Betroffene, einfach so unter Leute gehen?
Ich kann hier natürlich nur für mich sprechen, aber ich weiß nicht mal, wie das gemeint ist. Zu Straßenfesten, wo ich mich dann am Rand aufhalte, weil das alles zu laut und eng ist? In Bars/Kneipen wo viele nur grölen und tanzen (Sofern man das so nennen kann) und 100 verschiedene Alkoholfahnen um mich wehen? Oder in ein Café wo dein Nachbar sehr oft versucht, alles mitzubekommen, was du machst oder sagst?
Ich finde da niemanden, mit dem ich in irgendeiner Form kommunizieren, oder sogar mehr, möchte. Neue Menschen sind für mich immer schwierig. Und gerade dann, wenn es spontan sein soll. Ich brauche Vorlauf. Muss mich vorbereiten auf diese neuen Begegnungen und besser wäre zu wissen, wem ich da begegne.
Ausnahme ist, wenn mein Mann mich irgendwo mit hinnimmt. Dann versuche ich (wenn er es sich wirklich wünscht) auch mal spontan zu sein. Oder es gibt Alkohol, was meine Hemmschwelle in den Boden sinken lässt. Allerdings kam das bisher nur einmal vor. Zum Glück.
Gerade für Leute mit Social Anxiety (Und auch die, die sich das oft auch nur einbilden. Ja. Davon gibt es genug Menschen.), ist dieser Satz wie … als wenn wir sagen würden „Schütte dir Salzsäure ins Gesicht“. Kein angenehmer Gedanke, oder? Eben.
„Mach halt mal mehr Sport.“
„Alles was du brauchst ist ein bisschen Bewegung“
Sport. Das Allheilmittel für alle Krankheiten. Du hast Krebs? Mach Sport. Du hast zu viele Kilos drauf? Mach Sport. Du hast eine Lungeninsuffizienz? Mach Sport. Depressionen? Mach Sport. Egal was man hat, es gibt immer einen der mit diesem tollen Ratschlag kommt. Und ist der Ratschlag sinnvoll? In den meisten Fällen … NEIN.
Sport mag in vielen Bereichen helfen wie Kondition oder Muskeln aufbauen, jedoch nicht bei den meisten Krankheiten. Gerade bei Psychischen.
Mein Mann und ich haben z. B. Pläne gemacht bzgl. unseres Lebens nach dem Umzug. Ich möchte mir, damit auch etwas Stress abfällt, einen strikten Wochenplan machen. Und auch dort soll Sport rein. Ich kam gleich mit Joggen und mein Mann hat mich sofort gebremst.
Bei Menschen mit zu vielen Kilos z. B. sind Sachen wie Joggen nicht ungefährlich. Mein Mann erinnerte mich daran, dass das die Gelenke nicht aushalten würden und eventuell dort zu Schäden kommt. Weil sie es halt auch nicht gewohnt sind.
Außerdem mag Sport zum Beispiel erschöpfen. Und vielleicht, nur vielleicht, hat es dem einen oder anderen auch bei psychischen Problemen geholfen, aber am Ende wirkt sich die Aktivität selbst kaum auf psychische Probleme aus.
Und am Ende würde es darauf hinauslaufen, dass man es ein bis zwei Mal macht und dann aufgibt. Zusätzlich trägt dieser Satz eher dazu bei, dass man sich selbst anfängt, noch schlechter zu sehen, als man es schon tut. Gedanken wie „Du bist ne faule Sau!“ oder „Du bist Fett geworden“ sind dann noch die harmloseren Dinge, die uns dann begleiten.
„Lach doch mal.“
Ich habe in einem Blog-Projekt zu meinen Ängsten schon dazu was gesagt. Ja. Kann man machen. Is ja am Ende nur rein mechanisch. Das Problem ist: Wann wird diese Mechanik zum Automatismus? Bei mir wurde es das. Ich sehe Menschen, die z. B. „Lach doch mal“ gesagt haben und fange automatisch an zu lächeln. Aber … ohne es zu fühlen.
Ich lächele einfach, damit solche Sprüche nicht mehr kommen. Als ich noch im Büro gearbeitet hatte, inzwischen arbeite ich ja im Homeoffice, hab ich den Satz bestimmt 2-3 Mal zu hören bekommen. Pro Woche. Mir wurde auch dauernd schlechte Laune unterstellt. Weil ich halt nicht gelächelt habe.
Bei solchen Sätzen denkt man irgendwie, dass man permanent wie ein Honigkuchenpferd grinsend durchs Leben gehen muss. Aber mal ernsthaft gefragt: Was interessiert es andere, ob ich lache? Fühlen sie sich schlechter, weil ich es eben nicht tu? Und wenn ja: Wo ist das mein Problem?
Warum muss ich lachen, wenn mir aber zum Schreien oder Heulen zu Mute ist? Oder wenn ich mich auf etwas konzentrieren muss, weil Arbeit gemacht sein muss? Wir sollten den Spieß mal umdrehen: „Wein doch mal!“
„Du musst nur Umdenken/Positiv denken“
„Denk doch einfach mal an etwas Schönes!“
Das hatten wir ja schon in ähnlicher Form im ersten Teil. Dennoch wollte ich das einmal auch hier mit reinnehmen. Ja man kann seinen Kopf versuchen zu manipulieren. Aber die Menschen die so etwas von einem, manchmal auch mit viel Nachdruck, verlangen vergessen eins: Sie können nicht nachvollziehen was für ein Kraftakt das ist.
Am Ende ist diese Aussage eigentlich das gleiche, wie wenn man einen Hund drum bittet zu fliegen. Er kann es versuchen. Vielleicht schafft er es, für 0,5 Sekunden in der Luft zu bleiben. Aber am Ende kann er es nicht.
Dasselbe gilt für depressive Menschen z. B.. Ja wir können an positive Dinge denken. Wie z. B. ein schönes Abendessen. Oder ein Konzertbesuch. Aber, und das wissen viele nicht, oft dauert es keine 10 Sekunden, bis diese positiven Gedanken überflutet werden. Von den Sorgen, Ängsten und Problemen, die uns heimsuchen.
Oder, was mein Kopf gerne macht, in diesen Positiven Erinnerungen / Gedanken das Quäntchen Negativität finden und aufbauschen, was da zu finden ist. Anhand der oben genannten Beispiele: „Du hast die ganze Zeit geredet. Dein/e Begleiter/in hatte sicher keinen Spaß.“ Oder „Du hast dich aufgeführt wie ein Teenie. Werd endlich erwachsen!“.
Für den ein oder Anderen mag das banal klingen. Aber für uns ist das ein Kampf. Ein sehr energiefressender Kampf den wir leider seltener gewinnen als verlieren.
„Geh doch einfach paar Stunden lang spazieren, dann kommst du auf andere Gedanken“
Bei dem Satz überlege ich immer, ob man Depressionen verstanden hat. Deswegen stell ich dazu mal eine Frage: Warum sollte mein Kopf die Gedanken draußen nicht haben, die er aber in der Wohnung hat?
Glaubt ihr wirklich, wenn ich zuhause daran denke, wie scheiße … mein Sozialleben ist, und draußen dann darüber nachdenkt, wie gut ich es eigentlich habe? Und wenn er draußen nicht an das scheiß sozialleben denkt, wer sagt denn, dass er dann nicht anfängt über … was weiß ich … die eigene Armut, fehlende Zärtlichkeiten oder was auch immer denkt?
Ein depressiver und negativer Kopf fängt nicht an anders zu denken, nur weil sich das Umfeld von 4 Wänden auf 4 Bäume ändert. Er wechselt vielleicht das Thema, aber doch nicht die Grundeinstellung. Ein Depressiver wird nicht gesund, nur weil er 2 Stunden seine Beine ununterbrochen bewegt.
Und selbst wenn es andere Gedanken sind: Kannst du, der diesen „Vorschlag“ macht, garantieren, dass diese Gedanken auch wirklich nicht negativ sind? Nein. Weil du bist nicht depressiv und du weißt nicht, was die Depression mit dem macht, der vor dir steht.
Ich möchte hier nicht sagen, dass es nicht doch Menschen gibt, denen rausgehen vielleicht hilft. Aber ich behaupte einfach mal, dass das nur auf wenige im Vergleich zur Masse zutrifft.
„Da muss sich doch nur ein Schalter in deinem Kopf umlegen, dann gehts dir wieder gut.“
„Dann hör halt auf zu denken“
Geil. Hat da jemand schon ein Patent für angemeldet? Also den „Ich bin nicht mehr depressiv Schalter“ im Hirn? Nein? Wieso sagt man dann sowas? Warum glauben Menschen immer, dass es für irgendwas einen Schalter im Kopf gibt?
Ich glaube viele depressive und psychisch kranke Menschen wünschen sich genau so einen Schalter. Ein Schalter der uns das Leid, was wir empfinden, aus dem Kopf spült. Der es einfach abschaltet. Das wär so ein Segen. Wenn auch ein gefährlicher Segen. Gar keine Traurigkeit mehr zu empfinden ist nämlich auch nicht so gesund.
Und wenn ich aufhören könnte zu denken, würde ich vielleicht endlich mal durchschlafen. Oder gar schneller einschlafen. Und vielleicht auch mehr Energie fürs Leben haben. Aber, und jetzt pass auf, setz dich hin, damit du dich nicht erschreckst, die meisten können das nicht! Ich z. B. kann nicht einfach aufhören zu denken oder nachzudenken. Es geht nicht.
Selbst während ich diesen Blog schreibe, denke ich an die Erlebnisse der letzten Wochen. An das, was ich verloren habe. Wie es mir ging. Was mir passiert ist. Und das obwohl ich diesen Text schreibe in der Hoffnung, Menschen damit zu erreichen uns sie zum Umdenken zu bewegen.
Das Leben wär so viel einfacher, wenn es die Option gäbe, mal einfach nicht zu denken und wie ein Zombie durchs Leben torkeln zu können. Das wär es für alle. Nicht nur für depressive Menschen. Das Hirn will, was es will. Und selbst wenn wir anfingen „Nicht denken“ zu denken, denken wir am Ende doch etwas.
Ich bin auch noch keinem Menschen begegnet, dem es leicht fiel weniger oder gar nicht zu denken. Weil es nicht geht. So einfach ist das. Gedanken werden höchstens mal sehr leise. Dass man sie kaum wahr nimmt. Aber der Kopf hört niemals auf zu arbeiten.
So. Von der Wortzahl sind wir nahe an letztem Wochenende und der Bereich ist damit auch abgearbeitet. Ich mag diese ungefragten Ratschläge persönlich gar nicht. Und bei vielen davon, wir zum Beispiel der mit dem Schalter, werde ich auch wütend. Für einige wenige mögen einige der Ratschläge vielleicht nützlich sein. Aber die Menschen haben sich angewöhnt, diese Ratschläge jedem an den Kopf zu schmeißen, ohne darüber nachzudenken, ob die Person dafür überhaupt mental/körperlich in der Lage ist.
Vielleicht, aber nur vielleicht streicht man diese Ratschläge oder formuliert sie um. Aber dazu im Folgeprojekt mehr. Nächstes Mal wird es um die beleidigenden Dinge gehen.
Gerry